Der gefährlichste Ort der Welt
Julia Ganterer im Gespräch über häusliche Gewalt
Seit etlichen Jahren lehrt und forscht Julia Ganterer auf dem Gebiet der geschlechtsspezifischen Gewalt. In ihrem kürzlich erschienen Buch „Ja, das bin ich und das ist meine Geschichte“ gibt sie nun betroffenen Frauen eine Stimme und zeigt Wege aus der Gewalt auf.
Laut einer aktuellen Erhebung des Landesinstituts für Statistik findet Gewalt gegen Frauen in 90 Prozent der Fälle im familiären und partnerschaftlichen Umfeld statt. Weshalb wird häusliche Gewalt auch in Südtirol häufig noch als Privatangelegenheit abgetan?
Viele sehen weg, weil es schlichtweg unbequem ist, sich damit zu beschäftigen. Hierzulande wird bloß an der Oberfläche gekratzt und oberflächlich betrachtet ist ja alles wunderbar. Die Gesellschaft schweigt über relevante Themen wie Gewalt, Missbrauch oder Sexualität. Selbst über die katholische Kirche soll tunlichst nicht kritisch gesprochen werden. Es gilt, keine Schwäche zu zeigen. Auch die von mir interviewten Frauen sagten unisono, dass sie durchhalten würden. Dieses Durchhalten um jeden Preis wird bei uns glorifiziert, aber wir müssen mit dieser rückständigen Denkweise brechen. Eine außenstehende Person wird das Problem für die betroffenen Frauen nicht lösen können, aber sie kann sich sehr wohl gesprächsbereit zeigen und beispielsweise Telefonnummern von Beratungs- und Anlaufstellen anbieten. Gewalt, in welcher Form auch immer sie stattfinden mag, zu ignorieren, ist keine Option. Gewalt gegen Frauen ist ein gesellschaftliches Problem und niemals nur eine Privatangelegenheit.
Neben physischer und sexualisierter Gewalt sind viele auch von psychischer Gewalt betroffen.
Sehr viele Frauen erfahren Herabwürdigung und Demütigung durch den Partner, gerade weil die traditionellen Rollenbilder in unserer Gesellschaft tief verwurzelt sind. Unsichtbare Gewalt, etwa durch Beleidigungen und Bedrohungen, die von außen nicht als solche wahrgenommen wird, kann großen Schaden anrichten. Viele der betroffenen Frauen, die ich interviewte, sagten, dass zwar die körperlichen, nicht aber die seelischen Wunden heilen würden. Es ist substanziell, bereits im Kindesalter die Wirkkraft von verbaler Gewalt zu thematisieren, um das Hierarchiegefälle nicht auch an die nachfolgenden Generationen weiterzugeben. Man möge nur daran denken, dass der Ausdruck „Fotze“ für das weibliche Geschlechtsorgan nach wie vor als Schimpfwort gebraucht wird und ganz klar für eine Abwertung der Weiblichkeit und des Frau-Seins steht.
Formal sind die Geschlechter gleichberechtigt, de facto leben wir in einem System mit patriarchalen Strukturen. Wie kann es gelingen, unsere Gesellschaft für das Geschlechtergefälle zu sensibilisieren?
Wir sind tatsächlich bloß auf dem Papier gleichberechtigt, auch in Südtirol. Während in vielen Kulturen das Patriarchat weniger stark präsent ist, sind wir diesbezüglich noch rückständig. In Südtirol wird größtenteils von einer heteronormativen Zweigeschlechtlichkeit ausgegangen, die sich vor allem auch im Fehlen einer geschlechtssensiblen Sprache zeigt. Wir wurden so sozialisiert, dass wir die traditionellen Rollenbilder als normal begreifen. Normalität ist aber ein gesellschaftliches Konstrukt, das per se nicht objektiv sein kann. Fakt ist, dass vor allem Frauen und Menschen, die dem gesellschaftlichen Ordnungsprinzip aufgrund ihrer sexuellen Orientierung, ihrer Geschlechtsidentität oder ihrer Körperlichkeit nicht entsprechen, wie etwa Queer-, Trans- und Interpersonen oder auch Menschen mit einer Beeinträchtigung respektive Behinderung, vermehrt Diskriminierung und Gewalt erfahren. Um unsere Gesellschaft dahingehend zu sensibilisieren, bedarf es zunächst einer Reformation der Sprache. Gerade in den regionalen Medien, aber gleichermaßen auch an Schulen und Universitäten sowie auf politischer Ebene, werden die konservativen Rollenbilder durch den entsprechenden Sprachgebrauch reproduziert.
Der Opferbegriff ist teils negativ konnotiert und wird gar als Schimpfwort genutzt. Weshalb ist der Ausdruck problematisch?
Der Opferbegriff ist nicht wertfrei, sondern rückt die betroffene Frau als wehrlose und passive Person in den Fokus, der etwas angetan wurde und die sich nicht gewehrt hat. Auch ich thematisiere, welche Auswege diese aus der Gewalt gefunden haben und begreife sie dabei als handelnde Personen. Nun ist es aber an der Zeit, die Täterschaft in die Pflicht zu nehmen. Diese muss begreifen, dass Verletzungen, seien es beispielsweise physische, psychische oder finanzielle, individuell gewertet werden. Nicht der Täterschaft obliegt die Definitionshoheit von Gewalt, sondern den betroffenen Personen. Umso empörender war auch der Freispruch im „Zehn-Sekunden“-Urteil im vergangenen Sommer.
[Angelika Aichner]
DIE BUCHPRÄSENTATION MIT JULIA GANTERER AM 7. DEZEMBER | UM 18.30 UHR | STADTBIBLIOTHEK BRUNECK
„Ja, das bin ich und das ist meine Geschichte“
Die Autorin Julia Ganterer hat mit betroffenen Frauen und Mitarbeiter*innen von Frauenhäusern in Südtirol gesprochen und stellt die Frage, wie es möglich ist, dass immer wieder Gewalt in Beziehungen stattfindet. In Erfahrungsberichten schildern die Frauen, wie sie ihren Weg aus der Gewalt gefunden haben.
NOTRUFNUMMERN: 112, 1522
Bozen:
GEA – Kontaktstelle gegen Gewalt, 800 276 433
Haus der geschützten Wohnungen, 800 892 828
Meran: Frauen gegen Gewalt, 800 014 008
Bruneck: Frauenhausdienst Pustertal, 800 310 303
Brixen: Frauenhausdienst Eisacktal, 800 601 330