Auf der Suche nach Identität
Neue Minderheiten erweitern die Grenzen des dreisprachigen Südtirol
Historisch gesehen ist Südtirol dreisprachig – jedenfalls als Durchzugsland seit langer Zeit von der Anwesenheit verschiedener sprachlicher und kultureller Minderheiten gekennzeichnet. Manchmal treffen sie sich, manchmal leben sie allerdings nebeneinander her, ohne sich wirklich zu begegnen.
Heute ist Südtirol, wie übrigens fast überall in Europa, Schauplatz unaufhaltsamer sozialer und demografischer Veränderungen und einer neuen multiethnischen Vielfalt. Das Besondere ist, dass sich Zuwandererinnen und Zuwanderer hierzulande überdies mit der oft starren Aufteilung Deutsche/Italiener auseinandersetzen müssen. Nichtsdestotrotz prägt die Präsenz neuer Mitbürgerinnen und Mitbürger immer mehr das Erscheinungsbild der Städte und zumindest teilweise auch der Dörfer.
Film „Heutzutage.Zwölf Geschichten“
Wie leben die „einheimischen“ Südtiroler/-innen diese neue Realität, was denken die „neuen“? Die Veränderung passiert tagtäglich: Werden wir von diesem unaufhaltbaren Prozess überrollt oder können und wollen wir ihn gemeinsam gestalten? Der Film der beiden Trentiner Regisseure Manuela Boezio und Federico Scienza „Dodici di noi - Heutzutage.Zwölf Geschichten“, der 2023 Premiere feierte, thematisiert diese Problematik, ohne Antworten vorwegzunehmen. „Heutzutage. Zwölf Geschichten“ ist eine Reise vom Brenner nach Rovereto, in dem anhand persönlicher Geschichten Beispiele des Zusammenlebens und der Integration sowie verschiedene Sichtweisen auf die Realität aufgezeigt werden. Zwölf Protagonisten unterschiedlichen Alters, unterschiedlicher Bildung, Nationalität und Kultur erzählen von sich, ihrem Identitätsgefühl und ihrer Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft. Unter ihnen: zwei Jugendliche nordafrikanischer Herkunft aus Rovereto, eine pakistanische Mutter, die als Freiwillige gegen die Einsamkeit und die Ausgrenzung der anderen Frauen kämpft, oder der Bürgermeister von Franzensfeste, Thomas Klapfer, der mit 30 Prozent Ausländeranteil in seiner Gemeinde und 27 unterschiedlichen Nationalitäten versucht, die Gemeinschaft zusammenzuhalten. Interessant auch die Aussagen zweier älterer Südtiroler Künstler, Zeugen der Jahre des ethnischen Konflikts. Bei einem Zusammentreffen paralleler und scheinbar unvereinbarer Lebenswege und -realitäten tauchen die Stimmen junger Italiener/-innen der zweiten Generation auf, die zwischen ihrer Herkunftskultur und der Suche nach ihrer eigenen Identität schwanken.
Einladung zum Meinungsaustausch
Der Film wurde im Vorjahr erstmals in italienischer Sprache im Filmclub Bozen und in deutscher Sprache auf Rai Südtirol gezeigt. Dabei sind nur die Aussagen der jeweils anderen Sprache mit Untertiteln belegt. Im Frühjahr 2024 initiierte Martin Peer vom Amt für Weiterbildung und Sprachen der deutschen Kulturabteilung, in Zusammenarbeit mit der Koordinierungsstelle für Integration, Alpha & Beta und der Sozialgenossenschaft Savera Filmvorführungen in der Peripherie Südtirols (Bruneck, Klausen, Lana, Schlanders, Franzensfeste) mit anschließender Diskussion. Dazu Peer: „Wir gehen von der Annahme aus, dass niemand die Antworten auf die vielen Fragen hat, die diese neue Realität aufwirft. Deshalb wollen wir vor allem zuhören und verstehen, was der jeweils ,Fremdeʻ und der ,Andersdenkendeʻ im offenen Austausch sagt und denkt. Es hat sich gezeigt, dass das Publikum das Angebot, sich dazu zu äußern, gerne angenommen hat, auch wenn die Diskussionen manchmal lebhaft waren.“ In welcher Sprache der Film gezeigt wird, kann fallweise auch spontan vor Ort entschieden werden.
Vorführungen in Sterzing, Meran, Bozen
Für die nächste Runde der Filmvorführungen sind die größeren Ortschaften in Südtirol vorgesehen. Dazu arbeitet das Amt für Weiterbildung und Sprachen mit lokalen Partnern zusammen. In Sterzing hat man sich dazu die Stadtbibliothek ins Boot geholt, die sich gerne mit aktuellen Themen beschäftigt, in Meran Mairania857, das Frauenmuseum und den Ost-West-Club, in Bozen das Teatro Cristallo. Im Anschluss an den knapp eine Stunde dauernden Film haben die Anwesenden die Möglichkeit, mit Martin Peer, mit dem Produzenten Aldo Mazza und mit Mamadou Gaye von der Sozialgenossenschaft Savera ins Gespräch zu kommen. Savera fördert über die interkulturelle Mediation in verschiedenen Bereichen die Integration und Eingliederung ausländischer Bürger/-innen und das gegenseitige Kennenlernen. Eine Notwendigkeit, vor der heute niemand mehr die Augen verschließen kann.
[Sibylle Finatzer]
Film „Dodici di noi - Heutzutage. Zwölf Geschichten“
IT 2023, 52 Min., Regie: Federico Scienza, Manuela Boezio. Mit u.a.: Rayen Alamane, Raed Bouguerra, Christian Cassar, Mamadou Diallo, Mah Jabeen Saeed, Sadeq Jacksi, Saad Khan, Thomas Klapfer.
Termine:
- Sterzing, Stadttheater, 12. November, 20 Uhr
- Meran, Kulturzentrum Cavourstr., 18. November, 20 Uhr
- Bozen, Teatro Cristallo, 21. November, 18 Uhr
Moderation der Abende: Mamadou Gaye, Aldo Mazza, Martin Peer