Den Worten auf der Spur
Reinhard Christanell im Gespräch
Der in Bozen wohnhafte Autor und Herausgeber Reinhard Christanell ist einer der wenigen Südtiroler Schriftsteller, die in beiden Landessprachen gleichermaßen bewandert sind. Wir haben den vielseitigen Publizisten getroffen und mit ihm über seine Sprachkompetenzen sowie seine Einschätzung der gesellschaftspolitischen Entwicklung in Südtirol gesprochen.
Wir haben uns gefragt, woran Reinhard Christanell derzeit arbeitet. Dürfen wir einen neuen Band erwarten?
In absehbarer Zeit eher nicht. Was meine literarische Ambition betrifft, schreibe ich derzeit für mich, sozusagen für die Schublade. Ich habe auch nicht vor, in nächster Zukunft etwas zu veröffentlichen. Ansonsten schreibe ich vor allem Beiträge über historische Gegebenheiten und Besonderheiten, kleine Geschichten aus der Vergangenheit, die oft vergessen werden, die sich aber zu erzählen lohnen. Es geht dabei um vergangenes Wissen aus dem bäuerlichen oder bürgerlichen Milieu, etwa um die Etymologie alltäglicher oder althergebrachter Begriffe; mit anderen Worten, Alltagsgeschichten aus der Geschichte des Alltags. Ich publiziere diese Artikel vor allem in einem Stadtmagazin, das neben lokalen Beiträgen auch Artikel zur Regionalgeschichte bringt.
Du bist einer der ganz wenigen Südtiroler Autoren, die sich in zwei Sprachen, deutsch und italienisch, an die komplexe literarische Gattung der Lyrik heranwagen...
Es war diesbezüglich sicher von Vorteil, dass ich zweisprachig aufgewachsen bin. Mein Elternhaus war zwar deutschsprachig, aber mein Umfeld mehrheitlich italienisch. Da ich von klein auf mit beiden Sprachen konfrontiert war, beherrsche ich beide recht gut.
Wie wichtig es ist, eine zweite Sprache von Kindesbeinen an zu lernen, sehe ich auch in meiner Arbeit. Ich biete Deutschkurse für interessierte Italiener und Italienrinnen an und sehe, dass sich Erwachsene schwerer tun als Kinder, die eine Zweitsprache im Alltag einfach aufnehmen. Die Kurse sind privat organisiert, werden aber vom Land finanziert.
Als zweisprachiger Autor und Deutschlehrer bist du täglich mit der Sprachgruppendynamik und den Auswirkungen der Bildungspolitik konfrontiert. Was bringt deines Erachtens die Zukunft?
Wir können natürlich feiern, was wir erreicht haben, so wie wir es vor zwei Jahren anlässlich der „50 Jahre Zweites Autonomiestatut“ gemacht haben, aber wichtiger wäre es, über den Tellerrand hinauszublicken. Das sogenannte „Paket“ von 1972 war sicher ein Erfolg, aber wir müssen auch die Realität von heute anerkennen. Es leben viele Menschen zwischen Brenner und Salurn, die weder deutscher noch italienischer Muttersprache sind. Dies ist offiziell aber nicht vorgesehen. Alle diese Menschen haben hier im Grunde Schwierigkeiten mit der Anerkennung ihrer Identität. Wenn wir diese neue Realität nicht anerkennen und von der Politik hier keine Weichen gestellt werden, wird es irgendwann unweigerlich zu Konfliktsituationen kommen.
Welches deiner Bücher ist dein Lieblungsbuch?
Ich liebe eigentlich Werke anderer Autoren, dennoch fällt es mir nicht schwer, diese Frage zu beantworten. Mein Lieblingsbuch ist der Lyrikband „Mothia – poesie da un luogo di mare“. Es war der Versuch, die mir fremde und doch irgendwie vertraute, versunkene und zugleich unsterbliche Welt einer einst blühenden Zivilisation auf einer kleinen Insel vor der Küste Siziliens zu entdecken und in Worte zu fassen.
[Haimo Perkmann]
ZUR PERSON
Der gebürtige Kalterer Reinhard Christanell hat Gedichte und Erzählungen sowohl auf Italienisch als auch auf Deutsch veröffentlicht: Sillabario. Poesie e prose (2002), Oriente (2002), Ultime notizie dall‘impero degli Aztechi (2004), La vita finisce a cinquant‘anni (2005), Das Schwein in meinem Bett / Il maiale nel mio letto. Bozner Geschichten / Storie Bolzanine (2008), Lentamente muore chi non viaggia (Hrsg., 2004), Autobahn (Hrsg., 2006), Come sei bella. Viaggio poetico in Italia (Ant. a cura di Camillo Langone, 2017), Mothia. Poesie da un luogo di mare (2017).
Im Jahr 2018 erschien sein Werk „L’Alfabeto di Bolzano“. In diesem Buch sammelt Christanell wie ein Stadtreisender sprachliche und kulturelle „Erkenntnisse“, die ihm auf seinen Wegen durch Bozen begegnen, und formt daraus ein überraschendes und faszinierendes Alphabet. Bei näherer Betrachtung entpuppt sich dieses Bozner Abécédaire als eine sehr persönliche Interpretation der gesellschaftlichen Widersprüche und Eigenheiten dieser Bergregion.