„Totgeschwiegene Leben“
Rut Bernardi porträtiert fünf besondere Menschen aus drei Jahrhunderten
In akribischer Quellenarbeit hat Rut Bernardi die Lebensgeschichten von fünf Menschen zwischen dem 18. und 20. Jahrhundert ausgegraben. „Totgeschwiegene Leben“ ist aber kein Geschichtsbuch, sondern erzählt mit literarischer Einfühlsamkeit von Lebenswegen, die sich fernab von allem Eingespielten, Konformistischen und Philisterhaften bewegt haben. Ob es sich bei den Lebensentwürfen um ein Scheitern oder Gelingen handelt, bleibt offen.
In Ihrem Buch porträtieren Sie fünf verschiedene Menschen aus den letzten drei Jahrhunderten. Ist das noch Literatur oder schon Geschichtswissenschaft?
Die literarischen Porträts der „Totgeschwiegenen Leben“ lehnen sich an die Essayistik in der Tradition von Michel de Montaigne an. Die Basis bildet die wissenschaftliche Recherche, die fortlaufend mit fiktionaler Arbeit ergänzt wird. Die Phantasie und die Vorstellung der Autorin füllt die historischen Lücken. Der Essay ist der Versuch, die zwei Ebenen, Recherche und Fiktion, zusammenzubringen und eine Synthese zu bilden. Er kann durchaus als eine zeitgemäße Literaturgattung bezeichnet werden.
Wie sind Sie auf diese Biografien gestoßen?
Die Nonne Maria Theresia Sanoner aus Wolkenstein habe ich durch meine Säbengänge kennengelernt, da ich am Fuße des Klosters lebe und so gut wie täglich die „Säbenrunde“ gehe. Auf Matie Ploner, Organist, Poet und Komponist aus St. Ulrich bin ich durch meine Arbeit an der „Geschichte der ladinischen Literatur“ (2013 erschienen), die ich an der Universität Brixen geschrieben habe, gestoßen. Von Rosalia Nogler, die meine Urgroßmutter war, hat mir meine Tante oft erzählt, wie sie 1919 mit einem österreichischen Offizier geflüchtet ist und ihren Mann und 8 Kinder verlassen hat. Anna Maria Wanker, Direktorin der Schulen Grödens, war meine Großtante aus Pufels. Von ihr hat meine Mutter oft erzählt. Und über das Leben von Pepi Demetz habe ich aus seinen eigenen Erzählungen aus dem Internet erfahren.
Welche Quellen haben Sie für Ihr Buch verwendet?
Die historischen Quellen für die Porträts fand ich in der Chronik des Klosters Säben über Maria Theresia Sanoner, in den Tagebüchern von Matie Ploner, im Archiv der Gemeinde St. Ulrich über Rosalia Nogler, im Landesarchiv in Bozen über Anna Maria Wanker, in historischen Werken aus unterschiedlichen Bibliotheken und in Zeitungsartikeln sowie im Internet über Pepi Demetz. Weiters erhielt ich Daten aus privaten Dokumenten und Briefen und aus Erzählungen von Verwandten der Protagonisten.
Gibt es eine Figur, die Sie besonders fasziniert hat?
Das erschütterndste Porträt ist sicherlich jenes von Pepi Demetz (1916-1998) aus St. Ulrich als Überlebender der nationalsozialistischen Euthanasie.
Er ist schon 65 Jahre alt, als ihm Pfarrer Pretsch im Sommer 1981 einen Kassettenrekorder bringt, damit er über die Gräueltaten in den Heilanstalten der Nationalsozialisten während des Zweiten Weltkrieges sprechen kann. Er erzählt von Schicksalsschlägen seiner Kinderzeit, wie er von einem Ort zum anderen abgeschoben wird, und wie man ihn ins Irrenhaus von Pergine sperrt, von wo man ihn nach Zwiefalten in ein Sanatorium mit allen anderen Geisteskranken verschleppt. Dort gibt es ringsum nichts als Hunger und Kälte, und Entmenschlichung und Tod durch Spritzen und durch Gas. Seine Schuld: Er leidet an Epilepsie. Pepi überlebt alles, doch erst vier Jahre nach seinem Tod geht sein letzter Wunsch, in St. Ulrich begraben zu werden, in Erfüllung.
Totgeschwiegen ist ein sehr starkes Prädikat. In meinen Ohren klingt es, als seien diese Leben bewusst totgeschwiegen worden.
Ist es ein Zufall, dass Matie Ploner in so gut wie keinem Schulbuch erwähnt wird, dass die Schuldirektorin Anna Maria Wanker in Gröden völlig unbekannt ist, dass das Schicksal von Rosalia Nogler in der Familie bis heute verdrängt wird oder dass Pepi Demetz jahrzehntelang mit seiner Ziehmutter einen geheimen Briefwechsel führen musste? Ich denke nicht.
[Teseo La Marca]
ZUR PERSON
Rut Bernardi, aus St. Ulrich-Gröden, lebt in Klausen (Südtirol). Ladinischer Muttersprache. Romanistikstudium an der Universität Innsbruck. Lehrbeauftragte für Rätoromanisch an den Universitäten Zürich, Innsbruck, München, Mannheim und Bozen. Publizistin: u. a. Regie und Moderation der monatlichen Radiosendung L cuartet leterer (Das literarische Quartett). Sie schreibt und veröffentlicht ihre Literatur auf Ladinisch und Deutsch. Verschiedene Preise für literarische und kulturelle Verdienste. Zur Zeit lehrt sie an der Freien Universität Bozen, an der sie die Geschichte der Ladinischen Literatur verfasst hat, die 2013 erschienen ist. Im Juni 2021 wurde sie zur Vorsitzenden der SAAV - Südtiroler Autorinnen- und Autorenvereinigung gewählt.