Buenos Aires mit „Olt-Graunr Gschichtn“
Das Trauma des Reschensees und die Melancholie des Tango Nuevo
P wie Patscheider und Piazzolla, A wie Alt-Graun und Argentinien – was auf den ersten Blick seltsam anmuten lässt, passt doch überraschend gut zusammen. In der Brixner Dekadenz verspricht die Kombination von Obervinschger Dialekttexten und argentinischem Tango einen spannenden Abend.
Toni Bernhart stammt aus Südtirol, ist Professor für Neuere Deutsche Literatur am Institut für Literaturwissenschaft der Universität Stuttgart, er ist Theaterautor und Regisseur. Er ist außerdem der Sohn von Elsa Patscheider, die 1928 in Graun geboren wurde. Patscheider schrieb Prosatexte im Obervinschger Dialekt, die den Verlust ihres Heimatdorfes Graun thematisieren, das 1950 in den Fluten des Reschensees versank.
Mundart mit literarischer Qualität
Im Pandemiejahr 2020 las Toni Bernhart vom 19. März bis zum 17. Juli täglich eine Geschichte aus dem zweibändigen Werk seiner Mutter „Olt-Graunr Gschichtn“, das sie 1992 und 1995, nach ihrer Pensionierung als Grundschullehrerin, geschrieben hatte. Die vorgelesenen Geschichten wurden als Videos für ältere Menschen in den Pflegeheimen Südtirols und für alle, die sich um sie kümmerten, konzipiert und im Internet veröffentlicht (abrufbar unter www.vimeo.com/tonibernhart). In den Texten seiner Mutter entdeckte der studierte Literaturwissenschaftler Bernhart eine neue Qualität: „Eine gewisse persönliche Konnotation ergibt sich für mich allein schon dadurch, dass die Texte von meiner Mutter geschrieben wurden. Andererseits aber macht es keinen großen Unterschied beim Lesen, von wem das Geschriebene stammt. Ich habe festgestellt, dass sie einfach gut gemacht waren, und meine Achtung vor ihr ist noch gestiegen“, sagt Bernhart.
Das Trauma des Reschensees
1950 staut der Energiekonzern Montecatini den Graunersee und den Reschensee rücksichtslos und gewinnsüchtig zu einem großen See auf. Hunderte Familien aus Graun und Reschen werden völlig übergangen, verlieren ihre Heimat und Existenzgrundlage, werden zu einem Spottpreis entschädigt. Das Dorf wird dem Erdboden gleichgemacht, nur der aus dem 14. Jahrhundert stammende Kirchturm bleibt stehen. Sabina Mair, die Vorsitzende des Vereins Venusta Musica, möchte die Erinnerung an dieses Trauma wachhalten: „Die neuere Generation, auch im Vinschgau, hat einen völlig anderen Bezug zum Reschensee. Er wird als Freizeitareal und Touristenattraktion wahrgenommen. Doch dass dieses neue gute Leben, das sich mit dieser Nutzung bietet, auf dem Leid der Altvorderen gründet, sollte nicht vergessen werden.“ Auch der Veranstaltungsort Brixen ist nicht zufällig gewählt, denn die Sensibilisierung der Jüngeren für die Geschichte, deren Auswirkungen noch heute spürbar seien, funktioniere durchaus auch in anderen Gegenden Südtirols, meint Mair.
Parallelen und Gegensätze
Wo lässt sich nun eine Verbindung zwischen der tragischen Geschichte der Seestauung im Vinschger Oberland und dem Tango Nuevo von Astor Piazzolla aus Buenos Aires herstellen? Sabina Mair sieht dies sowohl in der Innovation wie auch in den Themen Sehnsucht, Leid und Schmerz: „Ich mag es, innovative Dinge in die Wege zu leiten. Elsa Patscheider war innovativ in ihren Texten, Astor Piazzolla war innovativ, indem er das anrüchige Image des Tango in die Moderne holte und ihn salonfähig machte. Gleichzeitig bilden die Dialekttexte und die argentinische Musik einen spannenden Kon-trast. Und in beiden lässt sich Melancholie spüren, eine gewisse Sehnsucht und Schwermut.“
Die Interpreten
Sabina Mair brachte den zunächst skeptischen Toni Bernhart und den deutschen Akkordeon-Spieler Helmut Neerfeld zusammen: „Wie meine Mutter und Astor Piazzolla einander nicht kannten, so waren auch wir Fremde füreinander – das schafft von Beginn an eine faszinierende Spannung. Dass Tango und Dialekt aber dann so gut zueinanderpassen, hat uns verblüfft und war auch für uns eine äußerst interessante Erfahrung,“ so Bernhart. Der gebürtige Norddeutsche Helmut Neerfeld gilt als ausgewiesener Akkordeon- und Tango-Spezialist.
Das überraschend vertraute und doch kontrastreiche Zusammenspiel der „Olt-Graunr Gschichtn“ mit dem Tango Nuevo bleibt vorerst ein Einzelprojekt, doch auch hier lässt man sich alles offen und ist vieles möglich, wie es im Leben von Elsa Patscheider und Astor Piazzolla ebenso war.
[Sibylle Finatzer]
PATSCHEIDER & PIAZZOLLA
Toni Bernhart, Texte von Elsa Patscheider –
Helmut Neerfeld, Musik von Astor Piazzolla
Termin: Freitag, 15. November, 20 Uhr
Ort: Brixen, Dekadenz
Veranstalter: Venusta Musica, Dekadenz Brixen
Tickets: www.dekadenz.it,