HASS ALS LIEBESERKLÄRUNG?
Maddalena Fingerle über ihren Debütroman und die Obsession mit Sprache
Maddalena Fingerle, Jahrgang 1993, hat mit „Lingua Madre“ einen Debütroman vorgelegt, der auf einfühlsame und humorvolle Weise die Geschichte von einer Obsession mit Sprache erzählt und zugleich die alltägliche Heuchelei des angeblich zweisprachigen Südtirols offenlegt.
Siehst Du Dich als zweisprachig?
Nein, ich bin italienisch aufgewachsen und Deutsch ist immer mit Unsicherheiten verbunden – noch mehr als Italienisch! Deutsch habe ich ja gelernt und bin mir dessen bewusst, ich merke es oft, wenn es um emotionale Themen geht. Da bin ich auf Deutsch nicht zu Hause und spreche spontan eher in meiner Muttersprache. Wenn mit Zweisprachigkeit gemeint ist, dass man zwei Sprachen sprechen kann, dann könnte ich das schon sein, aber für mich ist Zweisprachigkeit mehr: Es heißt, als Kind in die Sprachen zu wachsen, ohne, dass man die Regeln lernen muss. Man lernt zu denken und zu fühlen und man fühlt sich wohl in der Sprache. Deswegen finde ich es auch immer schade, wenn ich höre, ich sei zweisprachig, nur weil ich aus Bozen komme, auch weil dann die ganze Mühe des Lernens niedergemacht wird!
Der Protagonist Paolo Prescher hat ein Problem mit der Zweisprachigkeit in Südtirol. Warum?
Paolo hat ein Problem mit der Heuchelei und vermischt die Ebene des Privaten bzw. Familiären mit der Politik und der sozialen Situation in Bozen. Im Narrativen einer Zweisprachigkeit der Stadt sieht er die gleiche Dynamik der Falschheit seiner Mutter. Deswegen hasst er die Stadt und ihre Politik, weil er die Mutter hasst, für ihn gibt es ja nahezu keine Grenze bzw. keine Unterscheidung zwischen den zwei Ebenen. Seine Besessenheit und sein Hass sind aber auch eine große Liebeserklärung, für die Stadt und für die Mutter: Wo eine so große Obsession ist, ist auch viel Liebe und viel Schmerz.
Alle Namen im Buch sind Anagramme, so auch Paolo Prescher: Parole sporche. Was hat es mit den „schmutzigen Worten“ auf sich?
Paolo hat eine dichotomische Unterteilung der Welt: Auf der einen Seite gibt es die sauberen Wörter, auf der anderen die schmutzigen. Sauberkeit heißt sowas wie echt, ehrlich, liebevoll. Die Leute, die sauber sprechen, sind diejenigen, die ihn so leben lassen, wie er ist, mit seinen Schwächen und komischen Seiten. Dagegen sind die Leute, die schmutzig reden, diejenigen, die ihn nicht akzeptieren und dazu zwingen, so zu sein, wie er nicht ist. Schmutz ist hier mit Unehrlichkeit, Heuchelei und Gewalt verbunden. Diese Leute – ich denke an die Mutter und die Schwester – verletzen ihn.
Wie geht Paolo mit seiner Manie einer sauberen Sprache um?
Er versucht, sie in Deutschland zu finden, in der neuen Sprache, wo die Wörter noch nicht mit schlechten Erfahrungen bzw. Traumata verbunden sind. Es gibt aber eine Skala von Schmutz: vom Fleck bis zum Dreck bzw. Unflat. Mira, seine Freundin, ist die Person, die diese Manie verkörpert und seine Besessenheit von einer negativen zu einer positiven verwandeln kann. Eine Welt von sauberen Wörtern würde bedeuten, dass es keine Lügen, keine Gewalt, keine Falschheit existieren – das ist natürlich utopisch, aber er glaubt daran.
Nach seiner Rückkehr verschlimmert sich Paolos Obsession wieder. Ist die Südtiroler Gesellschaft daran schuld?
Nicht wirklich, es hat mit der Vermischung der Ebenen zu tun, wenn wir aus seiner Verzerrung der Realität rauskommen, kann man sagen, dass es mit dem familiären Kontext und mit den Erinnerungen zu tun hat, die er mit dem Ort, mit der Sprache und mit den Wörtern verbindet.
Wie ist Dein eigenes Verhältnis zur Sprache? Kannst Du Paolos Obsession nachvollziehen?
Paolo ist von den Wörtern besessen, er flüchtet in die Sprache und wird davon gleichzeitig gefangen. Er kann mit der emotionalen Sprache nichts anfangen, jedes Mal, wo er etwas fühlt, greift er auf Zitate und auf literarische Werke zurück. Ich kann das sehr gut nachvollziehen, weil ich auch eine Obsession für die Sprache habe. Meine ist aber eher eine positive Manie, die mit der Faszination für Aussprache und Dialekte zu tun hat – vielleicht nähert sich meine an die, die Paolo in Berlin hat.
[Teseo La Marca]
ZUR PERSON
Geboren 1993 in Bozen, schloss Maddalena Fingerle ihr Studium der Germanistik und Italianistik in München ab und promoviert derzeit im Rahmen des Forschungsprojekts SFB 1369 Vigilanzkulturen über paratextuelle Allegorien und Verkleidungen bei Tasso und Marino. Einige Erzählungen sind in Nazione Indiana, CrapulaClub und Narrandom erschienen. Sie ist Teil der Redaktion des Magazins Fillide, wo sie für den Bereich Kurzgeschichten verantwortlich ist. Ihr Debütroman „Lingua madre“ gewann die XXXIII Ausgabe des Italo-Calvino-Preises und wurde in der Reihe INCURSIONI beim Verlag Italo Svevo veröffentlicht.