Bittersüße Momentaufnahmen
„Agrodolce“: Die Bildwelten der Südtiroler Künstlerin Anuschka Prossliner
Mit dem italienischen Adjektiv „agrodolce“ beschreibt Anuschka Prossliner einige ihrer Werke. Ihre Zeichnungen und Fotografien bestehen aus filigranen Kompositionen, die zugleich verträumt und zerbrechlich wirken. Eine Anspielung auf die bittersüßen Aspekte des Lebens.
„agrodolce”: auf was bezieht sich dieses Wort?
Die Zeichnungen wirken auf den ersten Blick hell, geordnet, der Raum genau konstruiert. Die Figuren, die diese Welt beleben, bestehen aus einem Gewimmel an kleinsten Punkten oder aus einem Ineinandergreifen von Linien und wirken fein und delikat, sogar zerbrechlich. Und doch sind sie hart. Der Raum gibt keine Orientierung, keinen Halt, scheint aseptisch. Die Gesichter oder die Köpfe sind abgewandt, verschleiert oder mutiliert, einige Gestalten sind dem freien Fall ausgeliefert, andere sind gefangen in einem filigranen Netz. Die Fotografien hingegen wirken weich, dunkel, die Umrisse verschwommen. Die Farben sind satt und samtig, das eigentliche Gestaltungselement ist das warme Licht, das in Szene setzt, was gesehen werden soll. Es sind „schöne“ Bilder, aber es ist eine wehmütige Schönheit. Weil der Zerfall bereits am Werk ist, weil nichts von Dauer ist. So konträr die Zeichnungen und die Fotografien bei einem ersten Hinschauen wirken, so haben sie doch dieses „agrodolce“ gemeinsam, diese angenehme Oberfläche, hinter der Gefühle der Wut, der Verletzlichkeit, der Angst und der Melancholie, das Bewusstsein eines Endes durchschimmern.
Wie entsteht dieser „weiche“ Effekt in den Fotografien?
Oft wähle ich Motive, die durch ein „Chiaroscuro“ oder durch eine malerische Komponente auffallen. Ich will dann keine Fotografien, sondern Malereien, Gemälde schaffen, keine harten Oberflächen, sondern warme samtige Darstellungen. Das Kupfer als Träger unterstreicht diese Eigenschaften, wärmt auf und je nach Lichteinfall leuchten die Arbeiten in einem ungewöhnlichen Eigenlicht.
Auf welche Details legen Sie Ihr Augenmerk?
Alle meine fotografischen Sujets sind „gefundene“, niemals gestellte Szenen. Ich versuche dem Gewöhnlichen mit Staunen zu begegnen und der Ernsthaftigkeit möglichst etwas Humor und Ironie abzugewinnen. Jene Arbeiten, bei denen ich das Augenmerk auf das Licht lege, auf die malerische Komponente, haben eine andere Valenz. Sie sind feierlicher, schwerer, finde ich, mit einem dunklen Unterton.
Die Zeichnungen wirken auf den ersten Moment sehr schweigsam...
Die Bewohner dieser Zeichnungen können sicherlich schweigsam erscheinen, als einsame Seelen. Sie leben isoliert, wie eingefroren in einer abwesenden Welt. Ich sehe sie als eine Art Konzentration, eine Verdichtung des Daseins, und ich wünschte ihre Stille wirkte schmerzhaft laut.
Viele Darstellungen bestehen aus kleinen Punkten. Woher kommt das?
Der Punkt ist leise, zurückhaltend, nicht aufdringlich und doch gestochen scharf und kraftvoll. Das macht ihn für mich so reizvoll. Ein Punkt ist konzentriert. Intensiv. Zeichnen ist ja auch eine Form des Denkens und der Punkt gibt mir die nötige Zeit, um das Darzustellende wachsen zu lassen, um Punkt für Punkt zu verstehen.
Außerdem ist dieses selbstauferlegte Korsett des „Pointilismus“ nützlich. Durch die Einschränkung wirkt es paradoxerweise befreiend, weil es viele Entscheidungen vorwegnimmt und anderes ausschließt. Zu viele Freiheiten können eine lähmende Wirkung haben. Es ist einfacher sich in einem klaren Bezugssystem frei zu bewegen und zu entfalten.
[Adina Guarnieri]
ZUR PERSON: Anuschka Prossliner (*1972 Bozen) hat an der Accademia di Belle Arti in Bologna Malerei studiert, es folgte ein Forschungsdoktorat in Sevilla und Madrid. Sie hat für ihre Arbeiten u.a. den Premio Zucchelli gewonnen.