„Die Achtsamkeit ist das Wunder der Seele“
Wie Gisela und Mary Hafner sich aus eigener Kraft durchs Leben trugen
Gisela Hafner erzählt im Buch „Nichts Gutes kommt aus diesem Haus“ ihre schier unglaubliche Lebensgeschichte: Trotz Armut, Gewalt und Verwahrlosung schafften sie und ihre Zwillingsschwester Mary es, in ein selbstbestimmtes und zufriedenes Leben zu finden. Für viele grenzt dies an ein Wunder, aber „Die Achtsamkeit ist das Wunder der Seele“, sagt Gisela Hafner.
Gisela und Mary Hafner kamen 1960 in einem kleinen Ort am Bodensee zur Welt und wuchsen auf dem elterlichen Bauernhof auf. Rundherum wuchs der Wohlstand, doch zu Hause gab es es Schläge, grobe Worte, Tränen, Verzweiflung und Hunger. Trotzdem schafften die Schwestern es, ihre Kinderseelen zu schützen und ihren Glauben an das Gute im Menschen zu bewahren. Im Buch „Nichts Gutes kommt aus diesem Haus“ verarbeitet Gisela ihre schwierige Kindheit. Die beiden Schwestern im Doppelinterview.
Was hat Sie dazu bewogen, ihre Erlebnisse aufzuschreiben?
Gisela: Das Schreiben war in erster Linie ein Ventil, um den Druck und den Schmerz loszuwerden, der seit unserer Kindheit auf mir lastet. Richtig unerträglich wurden diese, als meine Kinder auf die Welt kamen. Mir wurde erst da richtig bewusst, in welcher Missachtung, Gefahr und Verwahrlosung wir aufgewachsen waren. Der Schmerz darüber fühlte sich an wie eine Betonplatte, die mich zu erdrücken drohte. Ich habe nächtelang meine Erinnerungen aufgeschrieben.
Wie ist der Gedanke gereift, daraus ein Buch zu machen?
Gisela: Die handgeschriebenen Seiten sind erstmal im Regal verschwunden, das war 1997. Erst viele Jahre später habe ich sie auf Anregung von außen hin wieder hervorgeholt. Meine erste Anfrage beim großen bundesdeutschen Verlag Bastei Lübbe in Köln wurde auf Anhieb angenommen. Das Buch soll grundsätzlich keine Schuldzuweisung, keine Anklage, kein Vorwurf sein. Die Botschaft des Buches lautet „Achtsamkeit“. Das Schlimmste für Kinder ist, missachtet und nicht wahrgenommen zu werden. Wir möchten den Lesern mitteilen, dass jede kleine Geste den Kindern hilft. Schaut hin und zögert nicht, etwas zu unternehmen, wenn ihr den Eindruck habt, Kindern geht es nicht gut!
Mary: Vielleicht ist jetzt, in Zeiten von Corona, auch gerade der richtige Zeitpunkt dafür. Die Gesellschaft wird offener für soziale Belange und die Nöte anderer.
Erzählen Sie kurz aus Ihrer Kindheit…
Gisela: Unsere Mutter war schwerst depressiv, hatte ein menschenverachtendes Denken. Alles war wertlos, auch wir Kinder. Uns wurde ständig gesagt, dass wir nichts seien und nichts könnten. Wir hatten das Gefühl, nicht sein zu dürfen. Die Eltern sperrten uns tagsüber in ein hohes Gitterbett, gingen aufs Feld und überließen uns uns selbst. Es gab kein Essen, keine Zuwendung, nichts. Wir sind mit sechs Jahren in die Schule gekommen, ohne richtig Deutsch zu können, und wir hatten nicht mal Bleistift oder Gummi, geschweige denn sonstiges Schulmaterial. Wenn wir aus der Schule kamen, war niemand da. Keiner hat für uns gekocht.
Mary: Wir wagten auch nicht, zu Hause nach Schulmaterial zu fragen. Der Vater ist beim kleinsten Anlass sofort ausgerastet. Generell hatten wir vor Erwachsenen, auch vor den Lehrern in der Schule, eine Heidenangst. Wir kannten ja nur Gewalt und Missachtung.
Apropos Schule: Ihre Nöte hätten doch auffallen müssen…
Mary: Im Gegenteil. Wir wurden vom Schulrektor vor der ganzen Schule bloßgestellt und gedemütigt. Es wurde mit dem Finger auf uns gezeigt – eine Freigabe zu Verachtung und Ausgrenzung. Heute würde man das Mobbing nennen. „Nichts Gutes kommt aus diesem Haus“, haben die Leute gesagt.
Wie haben Sie es geschafft, an dieser Situation nicht zugrunde zu gehen?
Gisela: Wir hatten ja uns beide. Wir haben viel gesungen und gebetet, der Glaube an Gott hat uns viel geholfen. Trotz der ganzen Negativität haben wir immer versucht, aus allem das Beste herauszuholen und für jede Kleinigkeit dankbar zu sein. Die Leute haben später zu uns gesagt, wir wären die freundlichsten und dankbarsten Kinder im ganzen Dorf gewesen.
Mary: Wir hatten eine trübe Spiegelscherbe in unserer Küche, Bad gab es keins. Ich habe mich davor gestellt, mit Gisela hinter mir, wir haben uns im Spiegel angesehen, und ich habe gesagt: Schau Gisi, wir sind schön und begabt. Eines Tages wird man noch über uns staunen.
Es ist ein Wunder, Sie hier heute als dankbare und glückliche Menschen zu sehen.
Gisela und Mary: Ja, das ist es. Wir haben das Muster des Aufwachsens nicht fortgeführt, die Spirale der Gewalt und des vernichtenden Gedankengutes durchbrochen und unsere Kinder mit Liebe und Zuwendung erzogen. Das Leben fragt nicht, das Leben fordert. Es antwortet immer auf das, was du in dir bist. Mit unserer tiefen Dankbarkeit und unserer positiven Geisteshaltung haben wir es geschafft, im Leben zu bestehen.
[Sibylle Finatzer]
Buch „Nichts Gutes kommt aus diesem Haus“
von Gisela Hafner
Verlag Bastei-Lübbe,
ISBN: 978-3-404-61706-7
Ersterscheinung und erhältlich ab 28. Juli 2020
Die Autorin und ihre Zwillingsschwester leben seit den 1990-er Jahren in Bozen.