Manchmal schreiben Dichter Prosa
Nadia Rungger über den Unterschied zwischen Gedichten und Erzählungen
Nadia Rungger, Jahrgang 1998, schreibt Lyrik und Erzählungen in deutscher und ladinischer Sprache. Jetzt ist ihr erster Band mit fünf preisgekrönten und anderen noch unveröffentlichten Texten im A. Weger Verlag erschienen.
In welcher Sprache fühlst du dich beheimatet?
In der ladinischen und deutschen Sprache. Besser ausdrücken kann ich mich auf Deutsch.
Gibt es für dich Dinge, die sich nur auf Ladinisch ausdrücken lassen?
Jede Sprache hat ihren eigenen Klang und ihren eigenen Rhythmus. Die Wörter haben andere Konnotationen und feine Bedeutungsunterschiede. Deshalb: ja. Genau so gibt es aber Dinge, die sich nur auf Deutsch ausdrücken lassen. In meinem Buch „Das Blatt mit den Lösungen“ stehen unter anderem auch einige ladinische Gedichte mit deutscher Übersetzung, außerdem die deutsche Übersetzung einer ladinischsprachigen Erzählung. Ich habe die Texte selbst übersetzt und fand es sehr spannend zu sehen, wie die Texte in einer anderen Sprache klingen und wirken, besonders die Gedichte.
Seit wann schreibst du Literatur?
Ich habe schon immer gern geschrieben. Ob es schon damals Literatur war? Als ich 14 war, wurde eine Schularbeit, die ich in der Mittelschule geschrieben hatte, in der Tageszeitung veröffentlicht. Ab diesem Zeitpunkt habe ich mein Bewusstsein für das Schreiben weiterentwickelt und begonnen, meine Geschichten zu Schreibwettbewerben einzusenden.
Im Band liest man die Verse: „Nicht immer ist das Leben rosa, manchmal schreibt der Dichter Prosa“. Du schreibst beides, Lyrik und Prosa. Aus demselben Grund?
Es geht mir um den Inhalt: Was will er sein? Braucht das Thema viel Platz, oder kann und muss es verdichtet werden? Ist es eine Momentaufnahme, ein Blick, ein Gefühl, eine Wahrnehmung? Ich beginne selten mit dem Gedanken: Das wird eine Erzählung. Oder: Das wird ein Gedicht. Ich finde, Lyrik und Prosa bedingen sich oft gegenseitig. Aus einem Gedicht kann eine Erzählung entstehen, und umgekehrt kann es sein, dass ich einen längeren Text zu einem Gedicht kürze. Manchmal schreibe ich eine halbe Seite, bis ich verstehe, dass ich gar nicht mehr zu sagen brauche, dass die ersten beiden Zeilen die besten sind und für sich stehen können. Aber nichts, was man löscht, wurde umsonst geschrieben. Es ist immer ein Prozess.
Woher nimmst du beim Schreiben deine Ideen?
Das klingt ein bisschen so, als würdenfertige Ideen vor uns in der Luft schweben und wir nur die Hand ausstrecken müssten, um sie nehmen zu können. Was mich zum Schreiben bringt, kann ganz verschieden sein: ein interessant klingendes Wort, ein seltsamer Geruch, eine verschwommene Erinnerung, ein anregendes Gespräch, eine gewisse Stimmung. Es sind Ahnungen, Richtungen, Erlebnisse, Wahrnehmungen. Manchmal schreibe ich auch dort, wo es laut ist – in einem Café zum Beispiel, oder im Zug. Ich fange gerne die Stimmungen auf, die um mich herum sind. Es geht mir auch darum, neue Perspektiven zu suchen. Und darum, Fragen zu stellen. Im ladinischen Wort für Schreiben „scrì“ ist es auch schon enthalten: „crì“, und das bedeutet „suchen“.
Hast du unter den Autor*innen der deutschen Literatur Vorbilder?
Nicht direkt. Ich mag gewisse Stilrichtungen, wie etwa den Surrealismus. Auch in meinen Geschichten sind die Realität und die Art ihrer Wahrnehmung etwas Wesentliches. Wie gehen wir mit unserer Umgebung um? Welche Bedeutung hat sie für uns? Der Surrealismus strahlt eine gewisse Souveränität aus, die ich in meinem Schreiben gerne umsetze.
Bei jungen Dichter*innen hat man den Eindruck, dass viele mit der Sprache arbeiten und den Inhalt als zweitrangig sehen. Wie siehst du dieses Verhältnis?
Sprache ist ein Werkzeug, um Inhalte darzustellen. Besonders Lyrik geht über die bloße Darstellung von Inhalten hinaus. Es geht auch um die Darstellung der Darstellung. Rhythmus, Sprachmelodie und Klang sind bei einem Gedicht wichtig. Etwas, das ich bei Gedichten gar nicht mag, ist, wenn die Form den Inhalt bedingt. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn ich durch den Reim schon die nächste Zeile erahnen kann.
[Teseo La Marca]
BIOGRAFIE
Nadia Rungger, *1998, aufgewachsen in Gröden/Südtirol.
Sie studiert Germanistik in Graz. Ihre deutsch- und ladinischsprachigen Erzählungen und Gedichte wurden mit nationalen und internationalen Literaturpreisen ausgezeichnet und in Literaturzeitschriften publiziert. Sie erhielt Stipendien für Schreibwerkstätten in Österreich, Südtirol und der Schweiz. Sie nimmt Radiosendungen für Radio Rai Ladinia auf und ist als Organisatorin und Moderatorin von Lesungen tätig. Im September 2020 erscheint ihre erste Veröffentlichung im Verlag A. Weger: „Das Blatt mit den Lösungen. Erzählungen und Gedichte“.
BIBLIOGRAFIE BZW. VERÖFFENTLICHUNGEN UND PREISE
Diploma di merito, Mendránze n poejia 2019
Preis des Lyrikmond-Wettbewerbs 2019
1. Ladinischer Literaturpreis Scribo Junior 2018
1. Internationaler Literaturpreis Passirio Club Merano 2017
1. Preis Lyrik Oberschulen, Bozner Autorentage 2017
1. Pergamenta Jugendliteraturpreis 2015
Finalistin der Bozner Autorentage Prosa Oberschulen 2015
1. Preis des Ladinischen Literaturwettbewerbs 2014