Ein Kultursommer der anderen Art
Die Freilichttheater Südtirols trotzen der Krise und erfinden sich neu
2020 ist ein außergewöhnliches Jahr. Doch während Hotels, Geschäfte und Museen schon seit einigen Wochen wieder Kunden und Besucher empfangen, hat die lokale Theaterlandschaft lange auf ihren Moment warten müssen: Stichtag war der 15. Juni.
Lange Zeit herrschte Unklarheit bezüglich der Bestimmungen und Publikumszahlen. Viele Termine, wie beispielsweise das Jazzfestival oder die Freiluftkonzerte in den Gärten von Trauttmansdorff, wurden deshalb auf 2021 verschoben. Dasselbe Schicksal ereilte die Schlossfestspiele in Dorf Tirol, wo der „Jedermann“ von Hugo von Hofmannsthal auf dem Programm stand. Die Entscheidung ist dem Team rund um Regisseur Torsten Schilling nicht leichtgefallen, aber in Anbetracht der grandiosen Inszenierung des „Don Quijote“ im vorigen Sommer, ist die Vorfreude beim Publikum sicher umso größer.
In Neumarkt haben die Freilichtspiele Südtiroler Unterland hingegen nach Alternativen gesucht, um den Frühling nicht ohne Theater verstreichen zu lassen. Begonnen hat alles im März, als auf der Homepage die Produktionen der letzten Jahre freigeschaltet worden sind. Von „Woyzeck“ über „Höllenangst“ bis zu „Der Weibsteufel“ – das Theatervergnügen ist nur einen Klick entfernt (Ähnliches bieten auch die Brixner Kollegen von Im Tschmpus). Aber das Beste kommt noch: Die FSU haben entschieden, im August die Komödie „Zur schönen Aussicht“ von Ödön von Horvath aufzuführen. Das Stück spielt in einem heruntergekommenen Hotel, zahlende Gäste hat man lange keine mehr gesehen. Da taucht plötzlich Christine auf, die ehemalige Geliebte des Direktors, und verlangt Unterhalt für dessen Sohn. Doch der Kindsvater heckt einen Plan aus, um seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Laut Selva hält Horvaths Stück „einer von Wirtschaftsliberalismus und Habgier entarteten Gesellschaft den Spiegel vor“.
Bei den Freilichtspielen Lana heißt es: „Was wir nicht sehen, hören wir“. Als Alternativprogramm zur traditionellen Aufführung wurde dieses Jahr ein Audiorundgang gestaltet, zusätzlich geben acht Installationen zum Thema „Frei – Licht – Spiel“ Einblick in die Welt des Theaters (Garderobe, Tribüne, Bühne etc.).
Und auch die Rittner Sommerspiele trotzen der Krise. Auf dem Sonnenhügel über Bozen geht man heuer eine Allianz mit dem Kleinkunsttheater Carambolage ein, wo im Frühjahr „Die Niere“ auf Eis gelegt werden musste. Aufgeben war aber keine Option und so wird das Stück nun im August in Oberbozen aufgeführt. Regisseurin Helga Maria Walcher erzählt die Geschichte von Kathrin, die eine neue Niere braucht. Ihr Ehemann Arnold hat dieselbe Blutgruppe, doch er ziert sich. Ein Freund der beiden will sofort als Spender einspringen, aber sowohl dessen Frau als auch Arnold fühlen sich übergangen, schließlich ist eine Organspende keine Lappalie. Es bricht ein regelrechter Hahnenkampf um die Niere aus, bei dem beide Paare Federn lassen müssen. Eine Komödie, die den Nerv heutiger Paarbeziehungen trifft.
Einen Nerv, und zwar jenen der Zeit, trifft auch der Zyklus „Was träumen wir – 10 künstlerische Interventionen frei nach Motiven aus Boccaccios ‚Decamerone‘“, präsentiert von den Vereinigten Bühnen Bozen. Von Juni bis Oktober erkundet das Theater den öffentlichen Raum rund um den Verdiplatz und macht seine Initiativen auch online zugänglich. Südtiroler Künstlerinnen und Künstlern schaffen multidisziplinäre Interventionen, die sich an Giovanni Boccaccio inspirieren. Dieser hat seine weltberühmte Novellensammlung im 14. Jahrhundert verfasst, als in Europa die Pest wütete. Durch das Projekt der VBB entstehen zehn Geschichten, die sich durch die Kunst der Erzählung folgende Frage stellen: „Worauf warten und was träumen wir?“
Das Theater leistet in schwierigen Situationen Hilfestellung und bekundet damit einmal mehr seine Wandelbarkeit. Corona ist zwar eine Herausforderung, jedoch lassen sich Südtirols Bühnen davon nicht beirren und nutzen die Chance, um für sich selbst und das Publikum neue Wege einzuschlagen.
[Adina Guarnieri]