Der längste Atem der Welt
Der Organist Leonhard Tutzer über die Königin der Instrumente
„Die Orgel ist ohne Zweifel das größte, das kühnste und das herrlichste aller von menschlichem Geist erschaffenen Instrumente, sie ist ein ganzes Orchester, von dem eine geschickte Hand alles verlangen, auf dem sie alles ausführen kann.“ So schrieb es bereits der große Honoré de Balzac.
Einer, der dieser Aussage wahrscheinlich uneingeschränkt zustimmen würde, ist der Organist und Orgelpädagoge Leonhard Tutzer aus Bozen. Optisch würde man ihn eher einer Rockband zuordnen. In seiner Jugend spielte er denn auch, neben Klavier, alle möglichen Tasteninstrumente in der Bozner Rockband „Emphasis“. Tutzer wählt seine Worte mit Bedacht. Er spricht ruhig und konzentriert. Und doch klingt aus jedem seiner Worte die Leidenschaft fürs Orgelspiel.
Liebe auf den ersten Ton
Leonhard Tutzer war in jungen Jahren Rockmusiker mit Leib und Seele und gedachte es zu bleiben, doch die Orgel machte ihm einen gewaltigen Strich durch seine jugendliche Rechnung. Die englische Rockband „Yes“ hatte 1977 nämlich zwei Songs veröffentlicht, in denen der Keyboarder seinen Part auf der Orgel der St.-Martin-Kirche in Vevey in der Schweiz eingespielt hatte. Nach den ersten vier Akkorden war es um den jungen Leonhard geschehen. Er begann Orgel am Konservatorium in Bozen zu studieren und dann in Wien bei Prof. Alfred Mitterhofer. Gleich in der ersten Unterrichtsstunde überrumpelte dieser den unbedarften Studenten mit seiner Energie und einer Menge Stücke, doch er war imstande, die Begeisterung fürs Orgelspiel bei Tutzer noch zu steigern.
Die Orgel und der Nachwuchs
Nach dem Studium kehrte Leonhard Tutzer nach Südtirol zurück. Seit 1985 unterrichtet Tutzer Orgel, Cembalo und Generalbass in Bozen und Brixen. In den Anfangsjahren war großes Interesse von Seiten der Schülerschaft da, wie er sagt. Die Orgel wird eher mit der Liturgie in Verbindung gebracht, und da der sonntägliche Kirchgang noch durchaus allerorts üblich war, hatte auch die Jugend einen Bezug zum Orgelspiel. „Heute ist es um den Nachwuchs eher schlecht bestellt. Viele Jugendliche gehen nicht mehr zur Kirche, dementsprechend ist ihnen die Orgel fremd.“ Tutzer nimmt hier die Schulen und Musikschulen in die Pflicht. „Man könnte die Orgel den Kindern durch Lehrausgänge und Workshops wieder näherbringen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Kinder und Jugendliche sehr begeisterungsfähig sind.“
Der Kosmos Orgel
„Orgelbau und Orgelmusik“ wurden 2017 in die „Repräsentative Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit“ aufgenommen. Eine Orgel ist ein ausgeklügeltes Meisterwerk aus Technik und Musik. Ihre drei Hauptteile sind: die Pfeifen, das Windwerk (Gebläse) und das Regierwerk, das heißt der Mechanismus, welcher der Luft den Zugang zu den einzelnen Pfeifen öffnet. Keine Freude hat Leonhard Tutzer mit Orgeln, bei denen das Ventil zur einzelnen Pfeife mit einem elektrischen Impuls geöffnet wird. Viel besser steuerbar und somit spielbar sind Orgeln, bei denen der Kontakt ausschließlich mechanisch erfolgt. Es gibt auch nicht die eine Orgel, wie Leonhard Tutzer erläutert. Jede Orgel ist anders, je nachdem, wie viele Manuale oder Register sie besitzt oder wie ihr Aufbau beschaffen ist. „Daher macht es auch keinen Sinn, ein Werk einzustudieren und damit auf Tournee zu gehen wie beispielsweise ein Pianist es tut. Erst muss ich mir die Orgel ansehen, dann weiß ich, welche Werke ich darauf spielen kann.“ Als Mitglied der Diözesanen Orgelkommission hat sich Leonhard Tutzer auch hier ein profundes Wissen angeeignet und kennt die Orgellandschaft in Südtirol und darüber hinaus bestens. Er ist also doch hin und wieder sozusagen auf Tournee – wenn auch nicht als Rockstar, sondern als einer, der ein noch gewaltigeres und beeindruckendes Klangwunder beherrscht.
[Sibylle Finatzer]
Zur Person
Leonhard Tutzer, Organist und Orgelpädagoge
- Studium an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Wien. Orgel-Konzertfach (Diplom 1986), Tonsatz (Abschlussexamen 1985) und Cembalo-Konzertfach (Diplom 1991)
- Konzerttätigkeit seit 1983. Solist und Continuospieler
- Rundfunkaufnahmen für RAI, ORF und Deutschland-radio-Kultur
- Seit 1985 Lehrtätigkeit für Orgel, Cembalo und Generalbass an den Musikschulen Bozen und Brixen
- Seit 2003 Organist an der Evangelischen Kirche in Bozen