Sargnagel und Apokalypse
Der November auf Südtirols Bühnen
Kalt und nass – so erleben wir meist die Zeit zwischen dem goldenen Herbst und der leuchtenden Weihnachtszeit. Doch im November ist theatertechnisch mächtig was los: man möchte sich fast zweiteilen, um bei allen Vorstellungen dabei zu sein.
Mit gleich drei Stücken wartet das Südtiroler Kulturinstitut auf. Mit (R)Evolution zeigt Regisseur Jochen Schölch eine ironische Anleitung zum Überleben im 21. Jahrhundert von Yael Ronen und Dimitrij Schaad (2.11. Waltherhaus Bozen, 3.11. Stadttheater Meran). Wir sind im Jahr 2040: Embryos werden perfektioniert, Geräte reparieren sich selbst und in jedem Haushalt hat Alecto das Sagen, eine künstliche Intelligenz, die alles über unser Leben weiß. Natürlich ist sie eine Spionin des Staates, so steht es auch in der Gebrauchsanweisung. Nur wer hat das Kleingedruckte gelesen? Weiter geht es mit Trutz, nach einem Roman von Christoph Hein (16.-17.11., Waltherhaus Bozen, Regie: Dušan David Parízek). Glücklich ist, wer vergisst? Das fragt sich Maykl Trutz, denn er hat ein unglaubliches Gedächtnis, vor allem bei schmerzhaften Erinnerungen. Da wären zum Beispiel seine Eltern, die vor den Nazis in die Sowjetunion geflohen sind und dort dem stalinistischen System zum Opfer fielen. Witzig und düster, abstrus und grausam: „Theater, wie es sein sollte!“, so die Zeitschrift Stern. Um die Schatten der Erinnerung geht es auch in Heldenplätze von Calle Fuhr (22.11. Kulturhaus Schlanders, 23.11. Forum Brixen, 24.11. Stadttheater Meran). Eigentlich hat Theresa den Unfalltod ihres Bruders längst überwunden, doch die alte Wunde reiß auf. Die Geschwister hatten nämlich ein gemeinsames Idol: den Skifahrer Toni Sailer. Doch nach Sailers Tod werden Vergewaltigungsvorwürfe laut und Theresa muss sich die Frage stellen, auf wessen Kosten sie ihre idyllischen Erinnerungen aufrechterhält.
Im Theater in der Altstadt Meran ist den ganzen Monat über 72 Stunden – Eine Anklage zu sehen, eine Zusammenarbeit von TidA, Stadttheater Bruneck und Carambolage Bozen. Barbara Plagg erzählt die Geschichte von Mordopfer Eva, um deren Schicksal sich ein Netz von Fragen, Irritationen und fehlender Zivilcourage entspinnt. Die einzelnen Institutionen und Personen trifft zwar keine direkte Schuld, doch die Summe ihrer Verfehlungen ebnete Evas Mörder den Weg. Jeden Tag nimmt die Zahl der Femizide zu: Eine beklemmende Thematik, die keineswegs gelöst ist. Ende des Monats bespielt das Seniorentheater Überholspur die Bühne, und zwar mit Orangenduft (ab 29.11.). Lockdown, Distanzregeln, Abgrenzung – die Zeit ist reif für eine ernsthafte und launige Bestandsaufnahme. Die Theatergruppe thematisiert Möglichkeiten und Grenzen, Hoffnungen und Ängste. Der süße Duft reifer Orangen wird zur Metapher des Südens, für den gemeinsamen Aufbruch zum Sehnsuchtsort.
Strahlender Untergang, so der Titel der Theaterperformance, die im November zwei Mal zu sehen ist (9.11. Kunst Meran, 10.11. Captain Kehl’s Bozen). Ausgehend von einem Text von Christoph Ransmayr gestalten Regisseurin Alexandra Wilke, Schauspieler Markus Westphal und Soundkünstler Manuel Oberkalmsteiner eine makaber-humoristische Darbietung, die bereits im September große Erfolge feiern durfte. Der Inhalt ist genial und simpel: Wie lassen sich alle Probleme der Menschheit lösen? Indem sie sich selbst ausrottet. Deshalb werden in der Wüste gigantische Terrarien angelegt, in denen Freiwillige bei 50°C ihrem Untergang entgegenwandeln dürfen. Und was passiert? Das Angebot wird nur allzu gerne angenommen…
Im Carambolage Bozen findet zwischen 9. und 11. November der stets lang ersehnte Europäische Kleinkunstwettbewerb Niederstätter surPrize statt. Drei Künstler-/gruppen gehen an drei aufeinanderfolgenden Tagen ins Rennen, und können somit von mehreren Zuschauern gesehen werden. Erleben Sie Comedian und Magier Txema aus Spanien, die Schweizer Compagnie champloO mit ihrer Symbiose aus Körper und Sound und das Duo Hilaretto aus Frankreich. Wer macht den 1. Platz und sichert sich den Hauptgewinn von 3.000€? „Meine Gedanken möchte ich manchmal nicht haben“, das sagt Kabarettist Jess Jochimsen (18.-19.11.). Er will raus aus seinen Hirnwindungen und checken, was nach der Pandemie noch so im Umlauf ist. Gelassenheit, Solidarität, Vernunft – die müssen doch noch irgendwo herumliegen? Sein Programm ist ein kabarettistischer Gedankenaustausch, der zeigt, was Satire sein darf, kann, soll: anrührend, klug und, nicht zuletzt, sehr lustig. Und fast schon in der Vorweihnachtszeit angelangt ist René Sydow mit „Heimsuchung“ an der Reihe, einem Kabarett um Leben und Tod (25.-26.11.). Sein Debut heimste einst 11 Kabarettpreise ein. Nun präsentiert er sein viertes Programm, das sich als fröhliches Feuerwerk der Boshaftigkeit präsentiert, gegen Politik, Prominenz und den Pflegenotstand, wegen dem sein Opa aktuell kein Dach über den Kopf hat. Was ist ein Menschenleben überhaupt wert?
In der Dekadenz Brixen erwartet Sie am 5. November eine kabarettistische Lesung, oder ein gelesenes Kabarett? Man weiß es nicht genau. Fakt ist, dass Hosea Ratschiller & Klaus Ratschiller ihr „Den Vater zur Welt bringen: eine Unterhaltung“ zum Besten geben, in dem sie alte Vatermythen und neue Rollenbilder analysieren und ganz nebenbei einen Neologismus kreieren: das Vatern. Intim und politisch, nahbar, komisch, berührend und traurig: Ein herzliches Plädoyer für das Erzählen und allerlei Menschengemachtes. „Who is Hie?“ Das ist wahrlich eine gute Frage, zumindest wenn es nach Miriam Hie geht, der ersten asiatischen Moderatorin im österreichischen Fernsehen (11.-12.11.). Sie lebt zwischen den Welten: Fremdartig für die einen, mostschädelig für die anderen. Ihr Debut als Künstlerin zeigt die vielen Gesichter einer Frau, die ihr Leben mit zwei Waffen meistert: Wut und Humor. Am 18. November kommt hoher Besuch in den Brixner Kulturkeller: Stefanie Sargnagel mit einer Lesung aus ihrem Roman „Dicht“. Sex, Drugs & Rock ‘n’ Roll werden hier zum Phlegma, das nach Hasch und Schokobons schmeckt. Sie zeichnet die Rückseite Wiens, einer räudigen Welt, bevölkert von überaus liebenswerten Antihelden – meistens zumindest. Sargnagel ist lustige, brutale, widerborstige Literatur.
[Adina Guarnieri]