Aus Schatten und Licht
Woher kommen die Figuren von Wilhelm Senoner?
Verschmitzt, verlegen, nachdenklich – die Skulpturen von Wilhelm Senoner haben viele Geschichten zu erzählen, denn dank ihrer Individualität, weisen sie zutiefst menschliche Züge auf. Der berühmte Kunsthistoriker Philippe Daverio meinte dazu: „Senoner erschafft Figuren, die allesamt unterschiedlich und dennoch verwandt sind“.
Erste Frage an Wilhelm Senoner: woher kommt die Inspiration für deine Arbeiten?
Es sind Gestalten, die ich in der Natur entdecke. Ich bin viel in den Bergen unterwegs und in den Felsen erkenne ich oft Schatten, aus denen sich in meiner Vorstellung Figuren ergeben. Diese stelle ich dann in meinen Skulpturen, Holzreliefs und Bildern dar. Es sind unterschiedliche Personen, und daher auch der Titel meiner aktuellen Ausstellung auf Schloss Tirol: „Persona“.
Wie werden die Schatten zu Figuren?
Sie sind eine Alternative zu dem, was ich sehe. Ich erkenne etwas, gestalte es dann aber anders. Auch die Schatten bewegen sich, sie sind niemals gleich. In meinen Arbeiten gibt das Licht die Form, und der Schatten macht bei diesem Spiel mit. Deswegen lege ich viel Wert auf Linien und Kanten, denn sie schneiden die Oberfläche und erschaffen Hell und Dunkel. Meine Linien gehen nach oben, fallen wieder herab, und geben dadurch dem Werk seine Form. Auch meine Reliefs wirken dank der Kanten plastisch, tief, und das gefällt mir.
Oft benutzt du symbolartige Gegenstände, Tiere. Was hat es damit auf sich?
Ich war früher ein klassischer Holzbildhauer und habe mich viel mit der Gotik auseinandergesetzt. In der Kunst des Mittelalters wurden Heilige immer mit ihren Attributen dargestellt und alles hatte eine bestimmte Bedeutung. Auf Schloss Tirol stelle ich z.B. einen Mann mit einem Hahn aus. Der Hahn ist ein uraltes Symbol der Zeit. Er singt, wenn die Sonne aufgeht und lebt mit der Natur. Der Mensch macht das Gegenteil, er unterbricht mit seinem Verhalten den natürlichen Rhythmus.
Viele deiner Figuren haben einen tiefen Schnitt auf der Brust. Warum?
Das hat sich eines Tages so ergeben – ich musste es machen. Die Figur war da und ich hatte das Gefühl, dass sie keine Luft kriegt. Dann habe ich diesen Schnitt durchgezogen und es war, wie wenn man auf einem Berggipfel ankommt und tief Luft holt, so, als würde sich der Horizont vor einem öffnen, mein eigener Horizont hat sich erweitert. Das hat dazu geführt, dass ich meine Figuren aufschneide. Sie sind leichter, sie atmen.
Auffallend ist auch die raue Oberfläche…
Diese entsteht durch das Auftragen vieler Farbschichten. Ich mische auch Sägemehl unter, um den Effekt nochmal zu verstärken. Dadurch haften die Erdpigmente und Farben besser auf der Oberfläche. Sie setzten sich in den Unebenheiten fest. Ich lege viel Wert auf die Farbigkeit meiner Figuren. Sie müssen farbig sein, auch wenn ich sie in Bronze gießen lasse. Auf Schloss Tirol sind Bronzearbeiten im Innenhof zu sehen. Ihr starkes Rot hebt sie vom Hintergrund der Mauern ab. Rot ist die Farbe des Feuers, des Blutes und der Energie, der Gefahr, sie steht aber auch für Leidenschaft und Liebe.
[Adina Guarnieri]
Kürzlich sind zwei Kataloge zum Leben und Schaffen des Künstlers erschienen. „Wilhelm Senoner – Persona“, mit einem Vorwort von Leo Andergassen, bezieht sich auf die aktuelle Ausstellung auf Schloss Tirol, die noch bis 20. November besichtigt werden kann. 2021 ist bei „Skira“ der reich bebilderte, dreisprachige – Italienisch, Deutsch, Englisch – Katalog „Wilhelm Senoner“ erschienen, herausgegeben von Philippe Daverio.