Was heißt hier Natur?
Selma Mahlknecht über Auswüchse und Chancen des Tourismus
In Südtirol kollidiert der Tourismus mit allen Lebensbereichen. Auch mit der Gesundheit, wie dieser Covid-Winter wieder verdeutlicht. Selma Mahlknecht hat darüber ein Buch geschrieben, mit dem Titel: „Berg und Breakfast. Ein Panorama der touristischen Sehnsüchte und Ernüchterungen“ (Edition Raetia). Darin befasst sie sich pointiert und humorvoll mit den unterschiedlichen Wirklichkeiten, die dieser Tourismus entstehen lässt.
Unser großes touristisches Kapital sind die Berge. War das immer so?
Die Berge waren in erster Linie natürliche Barrieren, die man möglichst schnell hinter sich bringen wollte. Zu den Bergen will man nicht hin, da will man nur durch. Die Sehnsucht nach den Bergen kam erst später, als wir ab dem 19. Jahrhundert aus der rauen Wildnis zunehmend eine gastliche Natur geschaffen haben.
Heute sind die Berge mit Straßen und Seilbahnen überzogen, ihre Wildheit ist durch Technik auf ein berechenbares Minimum reduziert. Genau das stört uns aber auch. Warum stört es uns so sehr?
Weil wir die Natur zuerst gezähmt und dann romantisiert haben. Wir sehnen uns nach unberührter Natur – aber bitte ja nicht die raue Natur, mit der sich unsere Vorfahren jahrtausendelang herumgeplagt haben. Es ist eine Sehnsucht nach einer Art paradiesischer Gartennatur. Was wir heute um uns herum angelegt haben, ist in der Tat auch keine wilde Natur mehr, sondern ein Garten, eine disziplinierte, ästhetisch eingerichtete und geordnete Natur, die ganz auf unsere Bedürfnisse zugeschnitten ist. So gefällt es uns, gleichzeitig negieren wir aber den Gartencharakter und bilden uns ein, das sei noch echte Natur.
Es ist auch viel von Massentourismus die Rede, von Verschandelung der Landschaft. Tourismus hat bei uns mittlerweile einen oft negativen Beigeschmack. Wie war dein Zugang zu diesem Thema?
Ich habe versucht, einen pragmatischen Zugang zu bewahren. Die Emotionen schlagen in beide Richtungen sehr stark aus: ob Verteufelung des Tourismus als Zerstörer von Kultur und Landschaft oder Glorifizierung als alternativloses Allheilmittel für Wirtschaft und Wohlstand. Deswegen habe ich das Wort „Ernüchterungen“ als Titel gewählt. Weil sich eine nüchterne Betrachtung weder vom einen noch vom anderen einlullen lässt. Für mich war eher die Frage interessant: Wie lässt sich Tourismus in einer Art und Weise gestalten, dass er für alle Beteiligten passt?
Als Lösung wird dann oft nach dem „Qualitätstourismus“ als Gegenentwurf zum zerstörerischen Massentourismus gerufen.
Unter Qualitätstourismus versteht man in erster Linie, dass eine hohe Qualität geboten wird. Diesbezüglich hat Südtirol tatsächlich einen hohen Standard. Das Angebot soll dementsprechend „Qualitätstouristen“ anziehen, aber was bedeutet das? Je höher die Qualität des Angebots desto höher der Preis. Qualitätstouristen sind also Leute, die sich diese Preise leisten können. Das finde ich wirklich sehr ernüchternd, denn eigentlich könnte auch ein Rucksacktourist, der dem neuen Ort mit Respekt und Interesse begegnet, ein Qualitätstourist sein – der kann es sich aber schlicht nicht leisten, in den gehobenen Hotels zu logieren und fein zu speisen.
Im Sinne der Nachhaltigkeit wird Tourismus gerne kritisiert. Kann es auch zu wenig Tourismus geben?
Oh, ja. In den letzten eineinhalb Jahren hat es in einigen Regionen sogar bedrohlich wenig Touristen gegeben. In manchen afrikanischen Staaten hatte man erst durch den Safari-Tourismus ein System schaffen können, wodurch man den Schutz der Tiere und ihrer Lebensräume finanzieren konnte. Sobald das Geld und die Aufmerksamkeit fehlten, hat die Wilderei in diesen Gebieten sofort wieder zugenommen. Tourismus kann also auch eine schonende Nutzung von Natur ermöglichen.
[Teseo La Marca]